Deutschland schafft es bis ins Finale gegen England, verliert dann aber in der Verlängerung mit 1:2. Lange traurig sein muss deswegen aber niemand, denn der Orangenbaum trägt Früchte, um mal im Bild dieses Tagebuchs zu bleiben. Das fanden auch die mehreren tausend Menschen beim Empfang des Teams heute auf dem Römer in Frankfurt. Außerdem geht es um Lob, Witze und Bärte.
Deutschland 1 : 2 England n.V.
Das war gestern so ein richtiges Nervenspiel. Ich habe rein als Fan geschaut, ohne Notizblock. Der wäre danach sowieso nur total zerfleddert gewesen. Es war lange ungefähr der enge Fight, den ich mir vorgestellt hatte, allerdings mit weniger Offensivpower auf deutscher Seite als gedacht.
Das lag zum Teil natürlich am sehr kurzfristigen Ausfall von Alexandra Popp, die bisher in jedem Spiel getroffen hatte und in den Tagen vor dem Finale neben Lena Oberdorf die Person auf deutscher Seite war, um die sich alles drehte. Für sie startete Lea Schüller, erst seit kurzem wieder von Covid genesen und ein anderer Spielerinnentyp vorne drin. Sie ist auch sehr kopfballstark, kommt aber weniger über ihre Physis und mehr über ihre Positionierung.
Während in der ersten Hälfte nicht viel ging und England für mich das bessere Team war, gab es nach der Pause eine starke Phase Deutschlands. Ich hatte mir Tabea Waßmuth gewünscht und tatsächlich wurde sie für Jule Brand eingewechselt, die dieses Mal keinen guten Tag hatte. Waßmuth brachte direkt viel Zug zum Tor mit und bespielte den Raum hinter Lucy Bronze. Das sorgte für Gefahr und Deutschland hätte sich jetzt einen Treffer verdient gehabt.
Trotzdem fiel das erste Tor dann auf der anderen Seite, weil Keira Walsh mit einem langen Ball Ella Toone fand. Die Verteidigung kam nicht mehr entscheidend hinterher und Merle Frohms sah hier auch etwas unglücklich beim Rausrücken aus (62.). Für Torhüter*innen ist es nie schön, überlupft zu werden.
Den Ausgleich hatte ich nicht so recht im Gefühl, aber ich glaube spätestens als Lina Magulls Tor fiel, wussten dann auch meine Nachbar*innen, dass gerade Fußball angesagt ist. Die Vorlage kam von Waßmuth, das war richtig gut gespielt (79.). Deutschand war in der zweiten Hälfte insgesamt besser, aber auch hier hatte ich insgesamt den Eindruck, dass England mehr Kontrolle hatte, vor allem als es in Richtung Verlängerung ging.
Das 2:1 durch Chloe Kelly kam dann in der 111. Minute und in einer Phase, in der sich wohl alle so langsam gedanklich mit einem Elfmeterschießen beschäftigten. Der Treffer selbst entstand aus einem Durcheinander im Sechzehner, Kelly bekam den Ball erst im Nachsetzen über die Linie, sie war in der Situation einfach schneller als alle anderen.
Das war mild ausgedrückt ein Stimmungsdämpfer, ich persönlich habe mich dann aber über den Jubel trotzdem total gefreut. Es ist eigentlich albern, dass das heutzutage noch das Statement ist, dass es ist, als Frau nach einem Tor das Trikot auszuziehen und im Sport-BH über den Rasen zu rennen. Aber, dass damit noch nicht alle klarkommen, konnte man danach ja hier und dort beobachten.
Schiris & VAR
Danach war das Spiel für Deutschland gegessen. Es wäre eigentlich noch genug Zeit gewesen, man war allerdings schon vorher nicht mehr so gefährlich im Spiel und jetzt ließ man sich sehr einfach an die eigene Eckfahne drängen.
Klar, da spielte auch manche falsche Einwurfentscheidung mit rein und die Aufregung war groß, aber das muss man in so einem Endspiel dann cleverer lösen. Es war nicht schön anzusehen und ich habe mich in den Momenten genauso aufgeregt wie alle anderen, die keine Englandfans sind, aber die Gastgeberinnen machten das auch stark.
Auch ohne Fanbrille finde ich, dass man über Schiris und VAR bei dieser EM noch konstruktiv-kritisch sprechen sollte. Es gab schon ziemlich viele zwar kleine, aber eben doch gehäufte Fehlentscheidungen, sei es bei den Einwürfen oder Ecken und der Einsatz des VAR funktionierte leider nicht gut.
Ich bin nicht grundsätzlich gegen den VAR und da es immer menschliche Fehler geben wird, wird auch das niemals perfekt laufen. Aber es dauerte oft zu lange und es gab auch einige sehr fragwürdige Momente im Turnier.
Bezogen auf dieses Finale z.B. hätte Deutschland beim Handspiel von Leah Williamson sehr wahrscheinlich einen Elfmeter bekommen müssen. Wenn es um Professionalität und bessere Bedingungen geht, darf man die Schiedsrichterinnen und ihre Schulung nicht vergessen
Und nu?
Heute gab es dann den herzlichen Empfang des deutschen Nationalteams auf dem Römer in Frankfurt, mehrere tausend Menschen waren gekommen und die ARD übertrug live. Mich hat das sehr gerührt und, was man so gesehen hat, die Spielerinnen wohl auch. Sie schienen sich gar nicht bewusst darüber zu sein, was sich hier in den letzten Wochen entwickelt hat.
Natürlich schwebt jetzt über allem die Frage, wie es weitergehen soll, ob und wie sich diese Begeisterung auf die Bundesliga übertragen lässt und was dazu nötig ist. Zu dem Thema sind seit gestern mehrere Radiobeiträge und Artikel erschienen, ein paar habe ich unten verlinkt.
Klar ist, dass es mehrere Seiten gibt, die zu einer positiven Entwicklung beitragen müssen, Reden und Fingerzeigen, Hinauszögern wird nichts bringen. Klar sollte allen Beteiligten auch sein, dass in der Vergangenheit extrem viel Vertrauen leichtfertig verspielt wurde, sowohl vom DFB selbst als auch von verschiedenen Medien, wenn es um Anstoßzeiten und Übertragungen sowie ganz einfach Sportberichterstattung ging. Das sollte bei Entscheidungen und ihrer Kommunikation berücksichtigt werden. Die Fans sind der kleinen Schritte und Kompromisse längst überdrüssig.
Der Ausgang des Finales ist der beste Ansporn, endlich ehrlich anzupacken. Nicht, weil Deutschland verloren, sondern weil England gewonnen hat. Der Sieg der Engländerinnen ist der Lohn für all die harte Arbeit, die dort in den letzten Jahren von der FA, aber auch Medien wie der BBC und dem Guardian geleistet wurde. Man hat sich zu einer gleichwertigen Berichterstattung verpflichtet. Man ist dort mit sehr konkreten Konzepten in Vorleistung gegangen.
Auch dort gibt es noch sehr viel zu tun, um den Unterbau zu stärken. Auch dort in der Liga wird regelmäßig über die Schiedsrichterinnen gesprochen, mit Bibiana Steinhaus ist eine vom DFB vergraulte deutsche Expertin mit dabei, die Situation zu verbessern. Es ist keine Schande, sich an den Erfolgsrezepten zu orientieren.
Hier hingegen sah es nämlich in den letzten Jahren so aus, dass die Spielerinnen sich mit den gegebenen Bedingungen erst bessere Bedingungen verdienen sollten. Das war auch bei dieser EM wieder so. Alles schlurfte so vor sich hin und kurz vor dem Turnier gab es dann mit dem intensiven und sehr modernen Trainingslager eine Hauruckaktion.
Das hat dieses Mal zum Finale gereicht, nachhaltig ist es aber nicht, jahrzehntelang immer wieder so vorzugehen, dass alles auf den Aufwind aus einem internationalen Turnier gesetzt wird. Selbst diese Erkenntnis ist schon alt, es wurde nur noch nicht richtig nach ihr gehandelt.
Dieses Lob hat einen Bart
Alexandra Popp als Superman, als Terminator, mit Schnauzbart für Flicks Nationalmannschaft: Satire-Seiten wie z.B. FUMS hatten sehr viel Spaß an und mit den guten Leistungen der Wolfsburgerin. Deren Kopf oder Gesicht wurde für verschiedene Memes auf andere Körper gesetzt, männliche Körper. Popp reagierte auf den letzten dieser Witze dann in einer der PKs mit einem Schnäuzer zum Ankleben und tief verstellter Stimme, sagte ansonsten aber nicht viel dazu.
Ich würde mich in dem Zusammenhang all dieser nett und als Lob gemeinten Memes gerne über progressive Queerness freuen, männlich, weiblich, nicht-binär? Völlig egal. Allerdings lassen mich der Rahmen und der sonstige Output der verschiedenen Satireseiten voller Bro-Humor eher daran zweifeln, dass dieser Aspekt mitgedacht wurde.
Die Witze richten sich sonst an ein überwiegend männliches Publikum und daran sind auch die popkulturellen Referenzen ausgerichtet. Als Frau wie eine Heldinnenfigur in diesem Referenzrahmen aufzutauchen, soll als Kompliment gelten. Schau, wie stark sie ist! Boah, wie sie den Kopfball reingewuchtet hat! Wie hart sie sich in den Zweikampf wirft!
Wie Wonder Woman! Oder Xena! Oder Captain Marvel, She-Ra, Harley Quinn… der Terminator und Superman. Da fehlt so ein bisschen der Bezugsrahmen? Es gibt wirklich von kaum etwas mehr auf der Welt, als Superheld*innen für jede Gelegenheit. (Und es würde auch viele Spielerinnen als Vergleich geben, wenn die schon immer mehr Öffentlichkeit bekommen hätten.)
Bei dieser Sache schwingen ein Sexismus und eine Queerfeindlichkeit mit, der den Fußball der Frauen seit jeher begleitet: Fußball ist nichts für Frauen. Frauenfußball ist Quatsch. Das sind “Mannsweiber”. Und den guten Fußball, den spielen nur die Männer. Wenn Popp so gut ist, muss sie ein Mann sein!
Und ja, Kommentare dieser Art habe ich auch während dieser EM wieder gelesen. Aus dieser Perspektive fand ich Popps Reaktion sehr witzig, ich weiß nicht, ob es so gedacht war, aber es wirkte wie ein Spiegel-Vorhalten: Ich bin keine Frau? Ok, wenn ihr meint.
Mir ist klar, dass die verschiedenen Witze nicht diese alten Klischees ausdrücken sollen, aber sie bewegen sich nun mal in einem lange gegebenen Kontext und in dem funktionieren sie schnell nicht mehr. Auch diese Art von Humor selbst hat Geschichte. Eine Frau mit Männerkörper? Lange eigentlich eine Beleidigung, aber mit positiv gemeintem Kontext wird das allgemein als Lob angesehen. Aber umgekehrt ein Mann mit Frauenkörper? Das galt und gilt als Beleidigung in so ziemlich jedem Satiremagazin auf der Welt. Beides Sexismus in Reinform und je nachdem, worum es genau geht, kommen noch Homo- und Queerfeindlichkeit hinzu.
Es ist ja auch nicht verboten und aus meiner Sicht auch längst nicht mehr besonders, Attribute wie Stärke oder Härte weiblich zu bebildern. Man muss sich die Muskelpakete einer Ann-Katrin Berger oder Beth England auf den ganzen Trainingsplatzfotos oder so manche Grätsche bei dieser EM doch nur mal wirklich anschauen, um das zu sehen. Oder Bilder der jubelnden Chloe Kelly nach ihrem entscheidenden Tor.
Dankeschön!
Wie ihr unten in den Links seht, war ich bei der Rasenfunk-Rückschau auf das Turnier dabei. Ich denke, ich habe da alles gesagt, das ich im Moment rückblickend über die EM, die Berichterstattung drumherum sagen kann.
Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle nur noch bei allen bedanken, die hier über den letzten Monat mitgelesen haben, mir teilweise liebe Nachrichten via Twitter geschrieben und meine Arbeit mit anderen geteilt haben.
Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, das hier zusammenzustellen! Manches hätte ich gerne noch genauer beleuchtet, das war im Trubel dieses Turniers mit anderen Verpflichtungen nebenher leider nicht immer möglich.
Wenn ich mir so das durchweg positive Feedback anschaue, das mich über verschiedene Kanäle erreicht hat, haben sich die meisten von euch aber wohlgefühlt, EM-Freude und auch den ein oder anderen Podcast oder Blog gefunden, so soll das sein!
Empfehlungen des Tages
- Letzte Runde! Ich war zusammen mit Alina Ruprecht und Hendrik Buchheister bei der Rasenfunk-Rückschau auf die EM dabei und habe Jule für Lottes EM-Morgen, Verzeihung, der “Moaning Show”, neben vielen anderen auch eine Sprachnachricht geschickt.
- Viele beschäftigen sich gerade mit der Frage, wie es in Deutschland jetzt weitergeht und wie sich das Interesse der EM mit in die Bundesliga genommen werden kann. Hier schreibt Helene Altgelt für 90min zu dem Thema.
- Tamara Keller war zu dem Thema gestern bei Deutschlandfunk Kultur zu hören.
- Mara Pfeiffer für die Zeitschrift der Freitag hat über die komplexen Kämpfe geschrieben, denen sich Frauen im Sport gegenübersehen und die thematisiert werden müssen, wenn es vorwärts gehen soll.
- Wie es u.a. nicht weitergehen sollte, zeigt Sascha Düerkop im Twitter-Thread. Infos über Dauerkarten sind bei den meisten Vereinen der Bundesliga leider Fehlanzeige. (Menschen im Ruhrgebiet: Kommt doch einfach zur SGS Essen, das ist sowieso das schönste Stadion der Liga, bis sich woanders dauerhaft was bewegt.)